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Zwei Arten Existenz auszusagen.

Über den Unterschied intuitiven und objektiven Seins.

Lukas Nagel

11./12. Oktober 2016

Existenz ist ein Streitbegriff. Den einen wird er zu den Phänomenen führen, den anderen zur Wissenschaft, er sei subjektiv auf der einen und objektiv auf der anderen Seite. Aller Streit um Realismus und Konstruktion lag auch immer in der Frage, was denn existiere, und wie man es herausfinden könne. Nach der Kantschen Einsicht, dass sie keine messbare Eigenschaft ist, und der Heideggerschen Unterscheidung von dem Sein der Dinge und den Dingen selbst als Seienden, so mag einem der Anschein kommen, als wäre jener Begriff ein so weit unverstandener, dass es der Philosophie zukäme, jeden Existenzanspruch zu prüfen, als es weder mit Wissenschaftlichkeit noch mit Intuition zu erreichen wäre.

Aber auf der anderen Seite wird er ja benutzt. Wir sprechen davon, dass dieses existiert, und meinen dies durchaus nicht als widerlegbare These, nicht als Aussage über irgendeinen bloßen Eindruck, hinter dem die Sache nun sein möge oder nicht. Und wir können eigentlich auch nicht daran zweifeln, dass die Dinge der Welt auch wirklich existieren, und dass man über sie sprechen kann, denn sonst geht alle Kommunikation zugrunde, wie es das postmoderne Lavieren durch solche Hypothesen ja eindrücklich gezeigt hat, als es eben von solchen Dingen ausging und in seine eigene Nichtigkeit und Unausdrückbarkeit verschwand.

Wie also können wir zugleich annehmen, das Sein stehe zur Disposition und sei auch unverrückbar klar und intuitiv? Wie kann eine Sache denn zugleich sein und nicht sein, und wie kann sie denn überhaupt nicht sein, wenn sie doch eine Sache ist?

Ich glaube, dass es hierauf eine Antwort gibt, wenn wir uns davon trennen, dass es nur einen einzigen Begriff des Daseins geben müsse. Es gibt hier nämlich mindestens zwei Dinge, die wir Sein nennen, und das wir nicht zwischen ihnen trennen ist der eigentliche Grund für all dies Durcheinander. Ich nenne diese beiden die Unmittelbarkeit und die Hypothese, und will sie im folgenden erläutern. Welche nun von beiden die wirklich fundamentale Existenz ist, ist noch eine andere Frage, die natürlich unterschiedlich wird ausfallen müssen, wie man je die Stärke auf das Wort vom Sein lege, aber dass es beide gebe, davon kann eigentlich kein Zweifel sein, und noch weniger an ihren fundamentalen Eigenschaften.

Betrachte also zunächst folgende Sätze: Ich sehe einen Tisch; der Tisch erscheint mir rot; der Tisch ist als roter zu erkennen. In diesen drei Sätzen finden sich ganz verschiedene Aussagearten, die den Kern der Unterscheidung bildet.

Im ersten Satz ist über eine Sache nur ausgesagt, dass sie erscheine, dass sie also unmittelbar da ist. Im Unterschied zu den anderen beiden Sätzen steht hier jedoch ein Eindruck für sich alleine, wird also überhaupt nicht zu irgendeiner anderen Sache in Beziehung gesetzt. Er drückt eine reine Intuition aus, den reinen Gedanken, dass der Tisch da ist, unabhängig von allen Faktoren der Welt. Also solcher ist der Satz weder wahr noch falsch, er kann ja überhaupt nicht wahr oder falsch sein, weil er in keiner Beziehung zu irgendetwas ist als zu mir. Und da ich mein Selbst eben nur durch solche Sätze ausdrücken kann (weil es außerhalb solcher Sätze kein Wesen hat, insofern jede Selbsterkenntnis ja ein Objekt haben muss), so ist es sogar gerechtfertigt, dass Selbst zu definieren als die bloße Fähigkeit, solche Sätze aussprechen zu können, d.i. die Perspektivität der Welt a priori. Und als solches betrachtet, muss der Satz, dieses sehe ich, stets wahr sein, als er ja genau die Perspektivität ausdrückt, die durch das Aussprechen des Satzes schon hergestellt wurde. Insofern, als man diese Sätze also nicht verneinen kann, bilden sie einen Ausdruck des unmittelbaren Seins, wie es schon Parmenides als ein nicht verneinbares beschrieben hat, als intuitives Sein, und wie ich es also als meine eigentliche Identität zu setzen habe (d.h. Ich bin das Sein)

Betrachte nun den zweiten Satz. Hier erscheint nun nicht mehr eine, sondern gleich zwei Vorstellungen, die zu einem Satz verbunden werden, die einer Sache eine Eigenschaft zuspricht. Aber was meine ich damit? Es gibt hier ja offenbar einen Unterschied zum ersten Satztyp, in dem ja nur eine Perspektivität ausgedrückt wird. Im Beispielsatz wird ja eben nicht gesagt, dass ich einen roten Tisch sehe, sondern dass der Tisch, den ich schon gesehen habe, mir jetzt als roter erscheint. Ich sehe also zuerst zwei Eindrücke, den Tisch und die Röte, und verbinde sie dann miteinander, ohne aber einen neuen Eindruck (etwa eines roten Tisches) zu erzeugen. (Auch wenn natürlich durch Aussprechen eben dieses Urteils die Intuition des roten Tisches als etwas unmittelbares deutlich erzeugt werden kann, das aber eben erst nach Aussprechen der Aussage, die von zwei verschiedenen Intuitionen ausging und die in ihrem Vollzug auch als solche zu bewerten ist). Damit liegt hier die Bedeutung des Satzes in der Fähigkeit, Dinge zugleich zu denken. Das ist, was ich Welt nenne, das gemeinsame Denken von Eindrücken, und damit ist diese zweite Art des Ausdrucks nichts als der Ausdruck der Ver-Weltung, der phantastischen Erzeugung einer Welt als Möglichkeit.

Nun können wir hier aber schon einen wesentlichen Unterschied zur ersten Art Satz sehen; denn während der Eindruck der Perspektivität seiner Natur nach nicht falsch werden kann, so ist das mit der Verweltung nicht der Fall. Die Zusammenstellung, dass das Haus grün und rot ist, ist offenbar Unsinn, und damit falsch. Aber was bedeutet das? Denn ich kann ja den Eindruck eines grünen und roten Hauses denken, ich muss ihn ja hier bezeichnen könne. Aber er ist in sich widersprüchlich, aus ihm kann man beliebige Schlussfolgerungen ziehen. Allein dadurch also wird eine Verweltung falsch: Dass sich alles aus ihr folgern lässt, dass sie selbst schon das ganze Sein ist (denn ich bin mir selbst widersprüchlich, und deshalb als Gedanke immer falsch). Damit ist die Grenze der Welten zugleich ihre Verbindung, und durch das Überschreiten der Grenze einer Welt, durch Aussprechen einer inkonsistenten Aussage, wird die Grenze der Welt gebrochen. Die reine Fähigkeit vom Verbleiben in und Überschreiten von Weltgrenzen ist meine Phantasie, als sie im Träumen jene anderen Welthorizonte erschafft, unter denen allein ich Konsistenz überhaupt prüfen kann. Der Wille, diese Grenzen nicht zu zerbrechen, d.i. meine Neugier nach wirklichem Wissen, ist eben dadurch der Geist der Welt. Er hält die Welt als Ganzes.

Zusammenfassend ist also zum intuitiven und subjektiven Denken zu sagen: Ich bin das Sein, meine Phantasie ist die Ordnung der Dinge, meine Neugier ist der Geist der Welt.

Es bleibt aber noch eine Aussage vom Anfang übrig, die sich auf eine allgemeine Erkenntnis bezieht. Mit ihr löst sich nun das Rätsel des Daseins, da hier nun eine andere Art der Erkenntnis angenommen werden muss. Denn wenn ich sage, der Tisch ist als roter zu erkennen, so beziehe ich mich nicht auf mich selbst, scheine aber dennoch etwas über das Dasein zu sagen. Dieses Dasein ist nun aber ein anderes als das unmittelbare Dasein des Erscheinens. Es entsteht dadurch, dass ich zur Aufnahme irgend eines Gespräches drei fundamentale Annahmen treffen muss:

  1. Der andere hat selbst eine Perspektivität
  2. Er ist in der Lage und willens, mir diese mitzuteilen
  3. In Bezug auf konkrete Objekte ist Übereinkunft möglich.

Durch diese notwendigen Annahmen muss ich aber zugleich auch das Dasein einer Übereinkunft annehmen, die ich gar nicht sehen kann, denn ich schaue nun mal nicht in des anderen Kopf. Ich nehme hier nur an, dass wenn ich und der andere auf dasselbe zeigen und dabei noch dasselbe sagen, es unsinnig wäre, nicht anzunehmen, dass der andere ebenfalls den Eindruck hat, dass wir auf dasselbe zeigen und dasselbe sagen. Er muss dabei ja nicht dasselbe denken, denn wir können ja bei weitem nicht auf alles zeigen, was wir denken, aber wenn wir es können, dann muss es darin übereinstimmen.

Dies ist aber nichts als eine Hypothese, und in dieser Unter-Stellung des Seins unter das Zeigen erzeugen wir also durch Zeigen eine ganz andere Art Existenz, die gerade unabhängig ist von meiner eigenen Perspektive. Diese hypothetische Existenz, das objektive Dasein, ist dabei rein formal, sie behauptet ja auch nur eine formale Übereinkunft. Und eben da sie nicht unmittelbar und perspektivisch ist, sondern objektiv und wissenschaftlich, lässt sie sich widerlegen, indem man eben eine Perspektive findet, in der das Wort, das Zeigen, nichts bedeutet. So entdecken wir im Missverständnis objektive Existenz, so wie subjektive Existenz in unserer Intuition.

In dem Sinne also bin ich nicht das Sein, als das Sein hier völlig außer mir ist, während es im anderen Sinne mich gerade ausmacht. Unmittelbarkeit lässt sich nicht widerlegen, Objektivität schon, Unmittelbarkeit ist rein intuitiv und eigentlich auch nicht reflektierbar, während die Hypothese eine Forderung ist, die allein durch Reflektion darauf entstanden ist, dass meine eigenen Intuitionen nicht allumfassend sind. (Der Unterschied zwischen Selbst und Welt, der hier scheinbar verloren geht, ist hier in dem Unterschied zwischen dem Sein als Prinzip und dem Seienden als Dinge schon vorhanden; dieser Dualismus des ontologischen Unterschieds hat keine der Probleme des Cartesianischen und löst die meisten Probleme der Philosophie des Geistes in ontologischer Erklärung; ich führe das hier nicht weiter aus, da es mit dem Thema nur randständig zu tun hat.)

Hierdurch erreicht das Sein eine seltsame Ambivalenz: Zum einen ist es keiner Sache abzusprechen, zum anderen ist es im ganzen aber eine wirklich gewagte Hypothese. Diese Ambivalenz liegt aber nur im Begriff des Seins, als er hier zwei völlig verschiedene Dinge gleichzeitig zu bezeichnen versucht, daran aber scheitert. Dadurch unterscheidet sich die Ambivalenz des Seins selbst von der Ambivalenz im Sein, der dieselbe Sache mit anscheinend Gegensätzlichem bezeichnet. Das passiert, wenn Teile einer Sache zur einen und Teile zur anderen Seite gehören, und sie sich sogar gegenseitig benötigen, damit also der anscheinende Gegensatz überhaupt nicht vorhanden ist und vielmehr eine Gleichheit herrscht. Ich glaube, es ist diese Ambivalenz, die auch zwischen Gut und Schlecht, Schön und Hässlich oder Ernst und Albern steht; aber dies auszuführen würde hier zu weit gehen (wenn es gleich das Thema des Seins im Kern berührt, wie ich es in meiner ontologischen Ethik zeigen werde). Aber das Sein hat eben keine solche Ambivalenz, sondern vielmehr einen tiefen Gegensatz der beiden Arten.

Denn während es bei allen ambivalenten Gegensätzen eigentlich keine Fälle gibt, die nur zur einen oder nur zur anderen Seite gehören, gibt es sehr wohl Dinge, die nur unmittelbar oder nur hypothetisch existieren. So sind Halluzinationen deutliche Beispiele von rein intuitiver Existenz, der keine objektive zukommt, ähnlich auch Träume und Geschichten (wobei man diese auch in ihrer jeweiligen eigenen Welt betrachten kann, und in dieser sind sie doch objektiv, eben immer objektiv zum aktuellen Ver-Weltungs-Horizont). Rein objektive Existenz liegt in der Existenz von Dingen, die man nicht direkt erfahren kann, sondern die man nur als existent annehmen muss, um Übereinkunft zu erhalten; dazu gehören zunächst Objekte außerhalb des eigenen Blicks (d.i. die Permanenz der Welt), dann auch wissenschaftlich postulierte Existenzen (Elementarteilchen, Felder etc.), für die ich offenbar keine Intuition habe, die aber trotzdem da sind, und schließlich auch all jene Dinge, die schlichtweg außerhalb meiner Vorstellungskraft liegen, wie etwa die Farbe für den Farbenblinden, das Geräusch für den Tauben, oder einfach zu abstraktes wie ein fünfdimensionaler Raum. Hierbei sehen wir also, dass diese beiden Arten von Sein durchaus nicht zusammenfallen können, sondern getrennt sind und getrennt bleiben müssen, um wesentliche Phänomene erklären zu können.

Damit lautet das Ergebnis dieser Untersuchung: Es gibt zwei Arten von Sein, die Unmittelbarkeit des Sehens und die Hypothese der Übereinkunft darüber. Beide sind legitim, die Unmittelbarkeit in ihrer direkten Bejahung aller Prädikate, und die Hypothese in ihrer Gewagtheit. Die Unmittelbarkeit ist real gerade darin, dass sie als Material unserer Konstruktionen, unserer Ver-Weltungen dient, während die Realität der Hypothese ja ihrem Wesen nach zur Disposition steht und gerade deshalb hier die skeptische Seite der Konstruktion zum Tragen kommt.

Also lösen sich mit dieser Trennung die wesentlichen Probleme des Seins, zumindest die ich bisher sah. Ich hoffe, zumindest das ist hier deutlich geworden.

Ich habe all dies noch einmal im Schaubild dargestellt, um die Begriffe deutlicher werden zu lassen.